
Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst. Mose kam und berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm der HERR geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun. Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder. (2. Mose 19,1-6)
„Das Seminar war ganz wunderbar und spannend“, erzählte mir vor Jahren eine Bekannte, die ein Wochenende bei einem Retreat in Tirol verbrachte. „Der Referent war spitze. Weißt du, so eine charismatische Persönlichkeit!“ Auf meine Frage, was sie denn dort gemacht haben und was er ihnen so alles offenbart hat, hüllte sie sich allerdings in Schweigen. „Weißt du, uns wurde gesagt: ‚Ihr dürft niemanden erzählen, was hier passiert. Denn das verstehen Außenstehende nicht!‘.“
Privatoffenbarungen waren scheinbar nicht nur damals en vogue, sondern liegen auch derzeit im Trend – eine Nebenwirkung der Corona-Pandemie. Plötzlich ist wieder von Geheimwissen die Rede, von Einsichten und Erkenntnissen, die nicht mit allen geteilt werden dürfen.
Unser Bibeltext steht am Beginn der Erzählung, in der davon berichtet wird, wie Gott dem Volk Israel die Tora (die Weisungen) gibt und einen Bund mit ihm schließt. Was hier passiert, ist das genaue Gegenteil einer Privatoffenbarung. Keine Einzelperson, keine Elite, kein Klerus allein erhält die Offenbarung und damit auch die Macht und Kontrolle, Dinge preiszugeben oder nicht. Zurecht erinnert der viel zu früh verstorbene Rabbi Lord Jonathan Sacks (1948-2020): „Nur im Judentum hat sich die Selbstoffenbarung Gottes nicht an ein Individuum (einen Propheten) oder eine Gruppe (die Ältesten) gerichtet, sondern an ein ganzes Volk: an Jung und Alt, an Männer, Frauen und Kinder, an Gerechte und Noch-Nicht-Gerechte gleichermaßen.“ Die Tatsache, dass so viele Menschen diese Offenbarung gehört haben, leistet auch der Authentizität Vorschub – die Glaubwürdigkeit steht und fällt nicht mit einer einzelnen Person.
Ein weiterer Aspekt scheint beachtlich: Der Bund, den Gott mit Israel schließt, wird nicht von oben diktiert oder den Menschen aufgezwungen. Die Offenbarung geht erst weiter, als das Volk antwortete: wir wollen tun, was Gott gesagt hat. Hier wurde ein Prinzip geboren, dass bis heute Gültigkeit hat: Es gibt keine legitime Regierung ohne die Zustimmung der Regierten. „Das Judentum beruht im Kern auf der Idee – die ihrer Zeit weit voraus war und nicht immer restlos verstanden bzw. umgesetzt wurde –, dass der freie Gott die freie Anbetung freier Menschen will.“ (Lord Sacks)
Gott möchte sich an sein Volk binden und wirbt darum. Er schenkt ihnen Weisungen, die ein Leben in wahrer Freiheit möglich machen. Daran denken wir am sogenannten Israelsonntag. Und wir erinnern uns, dass sich in all den Geboten, Weisungen und Mahnungen – nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament – ein Gott zeigt, der wohlgesinnt ist. Der es gut mit uns meint und will, dass wir leben. Diese frohe Botschaft kann Juden und Christen miteinander verbinden, aber niemals trennen.
Erschienen in „SAAT. Evangelische Zeitung für Österreich“ (Ausgabe 08/2021)
Eine Antwort auf „Zur Freiheit berufen – Gedanken zum Israelsonntag“
Danke, Herr Pfarrer Stefan Fleischner Janits – endlich wieder Gedanken von Ihnen, schönen Abend, Karin Landauer